Montag, 25. September 2017

Gedanken am Morgen danach

Hinter der Welt, am Rande der Republik haben sie AfD gewählt. Im Wahlkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge hat die AfD 35,5 % der Zweitstimmen erhalten (CDU: 25,6 %), und die Direktkandidatin Frauke Petry sogar 37,4 % der Erststimmen.
Mich hat das Gesamtergebnis der Bundestagswahl wenig überrascht, dieses extreme Ergebnis hier im Nahen Osten schon. In etwa ein umgekehrtes Stimmenverhältnis zwischen CDU und AfD, das hätte ich mir gerade noch vorstellen können, aber das nicht.
Zählt man die 12,8 % für die Linkspartei und 1,9 % für die NPD dazu, dann haben hier über 50 % der Wähler für Parteien gestimmt, die das freiheitlich-demokratische System der Bundesrepublik mehr oder weniger offen ablehnen. Das ist das Erschreckendste an diesem Wahlergebnis.

Ich frage mich: Wie kommt es dazu? Woher diese Unzufriedenheit? Woher dieser Protest?
Wir leben doch in einem Land, wo es keinem wirklich schlecht geht und wo die Ärmsten und Benachteiligtsten immer noch eine Lebensgrundlage haben, und wo es auch Institutionen gibt, die sich um sie kümmern. Aber vielleicht ist das noch nicht mal der Punkt.

Ich glaube, es ist vor allem das Gefühl bei vielen, dass sie in der Politik einfach gar nicht vorkommen. Ich glaube, dass das Lebensgefühl derer, die hier leben, mit dem, was die öko-sozial-bürgerlichen Leitmilieus ausmacht, kaum noch Berührungspunkte hat.
Den Menschen, die hier leben, ist wohl nichts ferner als das Lebensgefühl, für das etwa Berlin steht: laut, schrill, großkotzig, dreckig, multikulti, queer, hip, anonym, gefährlich. Was für urban-kosmopolitische Hipster angesagt erscheint, ist für den Hinterweltler in der Sächsischen Schweiz einfach nur abstoßend oder beängstigend. Hier gilt als fremd, wer vor weniger als zwei Generationen aus dem Nachbarort zugezogen ist. Hier heißt Familie noch: Vater, Mutter, Kind(er), und die leben mit den Großeltern unter einem Dach. Wenn ich hier ein Haus betrete, dann fühlt sich das oft so an wie bei meiner Großmutter vor 50 Jahren. Alles ist klein, eine steile Holztreppe führt in die obere Etage. In eine Zehn- oder Fünfzehn-Quadratmeter-Küche hat man im Glücksfall eine neue Einbauküche reingequetscht oder aber die alten Hängen aus den 80-ern sind immer noch da. Hier lebt man mit Mindestlohn oder wenig mehr. Hält Häuschen und Garten in Schuss. Engagiert sich in der Freiwilligen Feuerwehr und geht am Wochenende zum Blumenfest, Bahnhofsfest oder Kartoffelfest (was so in den letzten Wochen bei uns los war). Hier möchte man keine Drogendealer im Park haben, ja nicht mal umgekippte Papierkörbe. Hier möchte man nicht englisch reden müssen, weil man das auch gar nicht kann. Hier sitzt man nicht mit dem Laptop im Café; hier geht man vielleicht noch Abends in die Kneipe, oder als besonderer Höhepunkt zweimal im Jahr mit der Familie in die Gaststätte.
Das ist an sich nicht schlecht, es ist nur anders als das, was denen wichtig ist, die im Land den Ton angeben. Nur kommen die, die den Ton angeben, hier so rüber, als hielten sich sich für das Maß aller Dinge. Sobald jemand sich für dieses ländlich-rustikale Lebensgefühl stark macht und sagt: „Es soll so bleiben, wir wollen es nicht anders haben, nur ein bisschen leichter und ein bisschen mehr Geld“, dann ist er schon bäh, und wenn er es wagt, das auch noch mit den wirklich Fremden in Verbindung zu bringen, die ins Land kommen, dann ist er bäh-bäh, bzw. Rassist oder Nazi.
Wen soll er denn wählen, von wem soll er sich denn vertreten fühlen? Von den Öko-Hipstern der Grünen? Von denen, die ihnen ungefragt Fremde ins Dorf setzen? Von denen, die dafür verantwortlich sind, dass sie auf der Sparkasse seit kurzem Gebühren zahlen müssen, statt Zinsen zu bekommen? Von denen, die gar nicht wissen, wer die „hart arbeitenden Menschen“ (Martin Schulz) „draußen im Land“ (allgemeiner Politikersprech) sind?

Das Dümmste und Falscheste, was man tun kann, ist, die AfD-Wähler als Rassisten, Nazis und Hinterwäldler zu diffamieren. Es sind Protestwähler, was sich auch darin zeigt, dass sie hier die eher gemäßigte (aber offensichtlich menschlich und persönlich problematische) Petry gewählt haben. Sie protestieren gegen eine Art, Politik zu treiben, in der sie – jedenfalls gefühlt – nicht vorkommen. Und sie protestieren gegen einen Politikstil, der sich als alternativlos ausgibt. Vielleicht war es ja gerade auch dieses „alternativlos“, das geradezu nach einer Alternative rief, die nun in Gestalt der Alternative für Deutschland im Bundestag sitzt.
Das Beste, was man tun kann, ist, das als Chance zur Erneuerung der Demokratie zu begreifen. Die AfD sollte dazu nötigen, sachlich und fair Chancen, Gefahren und politische Alternativen zu diskutieren. Ich glaube nicht, dass die AfD in der Lage sein wird, dabei letztlich eine konstruktive Rolle zu spielen, aber die Demokratie wachrütteln, das könnte sie schon.

Der große Wahlverlierer ist die SPD (hier: 7,8 %). Mir scheint, sie hat in ihrer Führung etwas Wichtiges begriffen, als sie gleich am Wahlabend die Fortsetzung der Großen Koalition ausgeschlossen hat. Das Land braucht Opposition, die nicht der AfD überlassen werden darf. Und wer verliert, gehört nicht in die Regierung.

Eine hat das nicht begriffen: Angela Merkel. Wie schon nach den Bundestagswahlen 2009 und 2013 stellt sie sich als Gewinnerin hin. Mit wem sie regiert, ist ihr letztlich egal. Wofür sie steht, weitgehend auch. Sie hat die SPD die letzten vier Jahre machen lassen. Sie wird auch, wenn es wirklich zu Jamaika kommt, Grüne und FDP machen lassen, sofern die sich nicht gegenseitig blockieren; und beide werden in vier Jahren, wenn diese Koalition so lange hält, zu den Verlierern gehören.

Einer meiner ersten Gedanken, nachdem ich die ersten Prognosen gehört hatte, war: Die eigentliche Verliererin heißt Angela Merkel. Müsste sie jetzt nicht zurücktreten? Das liegt ihr natürlich fern. Aber müsste die CDU nicht jetzt auch sagen: „Es ist höchste Zeit. Jetzt sollten wir den Neustart mit einem neuen Gesicht machen“? Auch das wird nicht geschehen. Zum mindesten müssten aber FDP und Grüne als Bedingung für Jamaika den Kopf von Merkel fordern: „Jamaika ja, aber nicht mit ihr!“ – Aber auch diese Chance für einen Reset wird verstreichen.

Am Ende bleibt die Hoffnung auf eine SPD, die sich in der Opposition neu erfindet.
Und die Hoffnung auf eine FDP, die in der Regierung für ein Höchstmaß an Freiheit und Rechtsstaatlichkeit sorgt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen