Sonntag, 31. Dezember 2017

Fürchtet euch nicht!

Gestern Nacht musste ich weinen. Das Jahr geht zuende, wir feiern Silvester, und ich weiß nicht, ob es der letzte Jahreswechsel ist, den ich erlebe. Aber ich will noch leben. Ich habe Angst zu sterben. Und die Vorstellung, wie alles weiter geht ohne mich und wie es sein wird für die, die mich lieben und die mir meine Hinterlassenschaften nachräumen müssen, tut weh.

Ich habe lange nicht geweint. Und das liegt nicht nur an der Kraft des Glaubens in mir. Gestern hatte ich vergessen, rechtzeitig mein Schmerzpflaster zu wechseln. Und das ist eben nicht nur gut gegen die Tumorschmerzen, es ist auch gut gegen Angst und Niedergeschlagenheit. Opioide helfen manchmal besser als das „Opium des Volkes“. Ich habe mir eine Pille gegen „Durchbruchschmerzen“ eingeworfen, und schnell war es wieder besser. Und doch: ich weiß nicht, was mit mir wäre, wenn ich diesen als Opium missverstandenen Glauben, die Hoffnung auf Gott nicht hätte – zusätzlich zu Schmerzpflastern und Pillen.

Es ist schon ein besonderer Jahreswechsel. Die letzten sechs Jahreswechsel waren alle gleich, zumindest sehr ähnlich. Andrea und ich standen auf dem Balkon, stießen mit Sekt an, küssten uns, sagten uns, dass wir einander lieben, und dass das auch im neuen Jahr so bleiben soll, wünschten uns, dass Gott uns segnen und führen möge und alles gut machen. Unten in Las Américas und Los Cristianos leuchteten die großen Feuerwerke, ein paar vereinzelte Knaller und Raketen zischten durch die Urbanisación Chayofa. Und wir hatten uns und die Hoffnung, dass es gut weitergehen würde, wie es bisher gut gegangen war.

Letztes Jahr wussten wir, dass in diesem Jahr alles anders werden würde. Wir waren auf Abschied gestimmt. Wo wir sein würden heute, nach einem Jahr, das wussten wir noch nicht. Obwohl es eine Pfarrstelle gab, auf die ich mich beworben hatte. Aber wir wussten es noch nicht, ob ich dort ankommen würde, und tatsächlich kam es dann auch anders.
Während wir auf Teneriffa schon Abschied nahmen, wussten wir bis April nicht sicher, wo unsere neue Heimat in Sachsen sein würde. Dann wurde es Hohnstein. Und Großenhain. Getrennte Arbeit und getrennte Wohnung in der Woche: neu, ungewohnt, nicht ganz das, was wir erhofft hatten. Und irgendwie doch gut.
Der Umzug, alles einrichten, vieles wegschmeißen und neu kaufen – Wochen zog sich das hin. Die neue Arbeit, der neue Dienst begann. Und vieles war gut: Offene Gemeinden, offene Herzen. Erwartungen. Hoffnungen. Pläne.

Und doch war von Anfang an etwas, das störte, schmerzte, irritierte, verstörte und, wie sich letztlich zeigte, zerstörte. Schmerzen, die sich schwer orten und schwer in den Griff kriegen ließen. Ich glaube, es war schon im August, dass ich meinem Amtsbruder Lothar Gulbins sagte, dass ich gesundheitliche Probleme habe, und die spürte ich immer wieder und sie schränkten mich ein.

Dann der 8. November, der Tag, der unser Leben in ein Davor und Danach geteilt hat. Die Diagnose: Pankreaskarzinom, Tumor der Bauchspeicheldrüse, Stadium T3N1M1. Die Perspektive: Lebensverlängernde Maßnahmen, palliative Chemotherapie, eine winzige Hoffnung, den Krebs so weit zurückdrängen zu können, dass er sich vielleicht sogar noch operativ entfernen lässt. Bis heute, weiß ich noch nicht, was die Therapie bis jetzt gebracht hat. Außer Müdigkeit, Übelkeit, Schwäche und dünnem Haar.
Doch: Diese Zeit hat noch manches mehr gebracht. Ein Zusammenrücken in der Familie und unter Freunden und Bekannten. Gespräche, die es sonst nie gegeben hätte. Besuche. Chats. Blogeinträge. Zeit. Eine Predigt, die durch die Kirchenpresse ging und viele bewegt hat. Glaube, Hoffnung, Liebe. Wenn ich daran denke, dann bin ich dankbar, zutiefst.

Wenn wir jetzt in das neue Jahr gehen, dann natürlich auch mit Angst und mit Trauer.

Ich denke an das weihnachtliche Fürchtet euch nicht! Das, was die Engel den Hirten sagen. Das, was Engel immer und überall sagen: Fürchtet euch nicht!

Angst und Furcht sind nicht dasselbe. Angst ist eine gute Sache, eine Funktion unseres Organismus, die uns vor Gefahren bewahrt: Wir gehen dem, was uns Angst macht, nach Möglichkeit aus dem Weg, oder wir kämpfen dagegen an.
Es ist ja viel die Rede von Ängsten, und oft werden Ängste nicht ernst genommen. Dann werden sie mit dem Verb „schüren“ verbunden. Als ob es nicht genug Dinge gebe, die uns Angst machen, ohne dass jemand diese Angst erst schüren müsste. Man kann Beängstigendes auch verschweigen, nur dass das dann zulasten der natürlichen Schutzfunktion der Angst geht. Nein, wer Ängste benennt und das, was Angst macht, weil es bedrohlich ist, beim Namen nennt, schürt keine Angst...

Aber das nur am Rande; ich mag jetzt nicht auf die Ängste in Bezug auf die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen eingehen, mit denen viele von uns ins neue Jahr gehen. Ich will darauf hinaus, dass wir berechtigte Ängste haben können und vielleicht müssen – so berechtigt wie meine Angst, das nächste Silvester nicht mehr zu erleben, oder meine Angst vor Schmerzen, Schwäche und davor, die Dinge nicht mehr zu schaffen und zu ordnen, die ich zu Ende bringen möchte.

Gottes Botschaft ist Fürchtet euch nicht! – Das ist eine andere Ebene als: Habt keine Angst! Es ist die geistliche Ebene, die göttliche Dimension. Es kann alles ganz schlimm werden, persönlich oder auch gesellschaftlich. Aber Gott ist da, dennoch, immer, auf alle Fälle, in Ewigkeit.
Mir kann am Ende nichts Schlimmeres passieren als zu sterben. Und dann bin ich in Gottes Hand. Endgültig. – Aber ich bin es auch jetzt schon. Darum sagt er: Fürchte dich nicht! Fürchtet euch nicht! Am Ende ist alles gut. In der Welt habt ihr Angst – ja, das stimmt, und es ist unvermeidlich – und trotzdem und gerade: Aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden! (Johannes 16,33)

Gestern Nacht musste ich weinen. Es war sicher nicht das letzte Mal. Und viele werden mit mir und um mich weinen. Und noch viel mehr werden weinen über das was ihnen und anderen widerfährt, und manchmal ist das weit schlimmer als eine tödliche Krankheit. Und wir werden Angst haben, Lebensangst und Todesangst. Aber Christus ist in die Welt gekommen, um uns bei aller Angst die Furcht zu nehmen und uns für immer und ewig mit Gott zu vereinen.
Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude.

Ich wünsche Ihnen und Euch allen für das Jahr, das kommt, die Furchtlosigkeit, die vom Himmel ist.


Sonntag, 24. Dezember 2017

Das Wort ward Fleisch.

Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit.
(Johannes 1, 14)


Jesus besiegt die Dämonen der Sprachlosigkeit, habe ich vor sechs Wochen gesagt. Dieses Wort hat die Runde gemacht. Und trotzdem bin ich die letzte Zeit ziemlich sprachlos gewesen. Die Chemotherapien, die ich in der Zwischenzeit hatte, haben mich müde und schwach gemacht. Ich habe viel geschlafen und wenige Worte gemacht.

Um so dankbarer bin ich für die Fülle an guten Worten, die mich, die uns erreicht haben. Berge von Karten und Briefen liegen auf den Tischen und in den Regalen. Noch mehr Wünsche, Reaktionen, Gedanken und Worte kamen über Facebook, Twitter, WhatsApp. Freunde, mit denen ich seit Jahren oder Jahrzehnten keinen Kontakt mehr hatte, haben sich gemeldet. Ein guter Freund meldet sich fast jeden Abend im Messenger. Und eine gute Freundin ebenso in WhatsApp.
Viele haben uns besucht oder Besuche angekündigt. Wir sind alles andere als allein. Umgeben von guten Worten.

Und, ja, es ist so: Die guten Worte vertreiben die Dämonen. Erst recht und vor allem, wenn es Worte von Jesus sind, Worte der Glaubenszuversicht. Es ist kein Dunkel in uns und um uns. Das Meiste, von dem ich damals gesprochen habe – die Angst, der Zorn, der Zynismus, der Wehleidigkeit und der Selbstanklage – diese Dämonen haben sich verkrümelt. Meistens sind gute Mächte des Trostes und der Hoffnung um uns und in uns. Und das verdanke ich, verdanken wir den guten Worten, die um uns sind. Worte der Liebe und der Hoffnung, von Menschen gesagt. Und Worte, die an Gottes Wort erinnern, die inspiriert sind von seinem einmalig guten Wort – Jesus Christus.

Jesus ist das Wort, habe ich damals gesagt.
Und das ist schließlich auch die Weihnachtsbotschaft nach Johannes: Das Wort ward Fleisch.
Der Punkt in der Geschichte, der Sinn macht.

Ich möchte ein paar Worte teilen, die mich gerade heute erreicht und berührt haben.

Die Personaldezernentin der Landeskirche schrieb mir einen sehr persönlichen Weihnachtsbrief und zitiert darin die Worte eines Bekannten:
„Der Stern am Himmel und der Weg der Weisen kamen an einer bestimmten Stelle zusammen. Dort war Ursprung und Ziel zugleich. So etwas gibt es nicht oft, dass himmlische und irdische Wege ineinander gehen. Aber wenn, dann heißt es stehen bleiben und beten.“
Wir kennen diese Stellen, wo Ursprung und Ziel, Himmel und Erde sich berühren. Wir haben sie erlebt. Und wir erleben sie wieder.

Freunde aus Dresden schickten uns ihr Büchlein voller guter Worte, die sie verfasst haben. Als Motto haben sie hineingeschrieben:
Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen. (Römer 8, 28)
Sie waren fast etwas erschrocken, mir dieses Wort zuzumuten, das sie für sich als Leitwort gefunden hatten. Sie wussten nicht, dass das mein Konfirmationsspruch ist, den ich vor 39 Jahren für mich ausgewählt hatte. Er bedeutet mir unendlich viel. Meine seltsamen und wunderbaren Lebenswege haben immer zum Besten gedient. Ich bin überzeugt: Das ist auch jetzt so.

Und dann stand in diesem Büchlein ganz vorne noch ein gutes Wort von Vaclav Havel:
„Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal, wie es ausgeht.“
Die Gewissheit vom Sinn trägt mich.
Ich kann sie Gott nennen.
Ich kann sie mit der Geschichte von Jesus verbinden.
Dem fleischgewordenen Wort, dem Wort, das Sinn macht.


Auf diesem Wege sage ich Danke für alle guten Worte der letzten Wochen! (Ich kann einfach nicht alles einzeln beantworten.)
Danke für alle Gebete!
Danke für allen Zuspruch und alle Liebe!
Und ich grüße, auch im Namen meiner lieben Frau Andrea, alle Freunde, Bekannten, Leser dieses Blogs, Facebook-Freunde und Twitter-Follower ganz herzlich und wünsche, dass Euch und Sie zu Weihnachten gute Worte erreichen und berühren!


Sonntag, 3. Dezember 2017

Zeit

Schenk uns Zeit,
schenk uns Zeit,
Zeit aus deiner Ewigkeit!

Seit Tagen summt dieses Verschen in mir.
Passt ja auch: Zeit und Ewigkeit.
Eben war Ewigkeitssonntag.
Jetzt hat ein neues Kirchenjahr begonnen.
Es ist Advents-Zeit.

Und ich fühle mich beschenkt mit Zeit.

Das ist paradox. Schien mir doch gerade noch die Zeit wie abgeschnitten, radikal verkürzt auf – nun ja, sagen wir mal: Monate, die ich wahrscheinlich noch zu leben habe; mit besten medizinischen Erfolgen und viel Wunder-Segen noch wenige Jahre.

Aber stattdessen habe ich jetzt viel mehr Zeit als zuvor:

  • Zeit für Gespräche und Gedanken, hin und her, zum Teil mit Freunden, alten Bekannten, mit denen ich seit Jahren keinen Kontakt mehr hatte, und mit anderen, die mir schon immer nahe waren.
  • Zeit zum Lesen, Nachdenken, Beten.
  • Zeit zum Schlafen, Spielen, Spazierengehen, Seriengucken, Musikhören.
  • Zeit zum Reden, Schweigen, Lachen, Weinen, Scherzen, Herzen mit der Frau, die mir Gott in mein Leben gegeben hat.
  • Zeit, einfach da zu sein, dankbar fürs Da-Sein.
So müsste Advent sein, habe ich immer mal gedacht: Eine Zeit mit ganz viel Zeit.
Besinnlich, so wünschen wir uns das.

Für mich als Pfarrer war die Adventszeit selten besinnlich, und immer zu kurz.
Außer vor ein paar Jahren, als ich schon mal krank war im Advent.
Da habe ich einen Web-Adventskalender gemacht. (Leider ist der nicht mehr verfügbar.)
Dazu habe ich in diesem Jahr nicht genug Energie.
Aber das macht nichts.

Ich habe Zeit.
Zeit für mich, Zeit für andere, Zeit für Gott.
Zeit von Gott. Zeit aus Gottes Ewigkeit.
Das ist Gnade.

Ich wünsche Euch bzw. Ihnen, liebe Leser, ganz viel geschenkte Zeit in dieser kurzen Adventszeit.
Zeit, in der Gottes Ewigkeit aufleuchtet.